Arbeitsgemeinschaft Selbständige in der SPD, AGS:

Für eine soziale, nachhaltige und ökologische Wirtschaft

Gastbeitrag von Michael Henke:

Veröffentlicht am 11.09.2017 in Soziales

Selbständige: 4,2 Millionen Wähler suchen ein Zuhause

Die meisten Selbständigen kennen die unzähligen Diskussionen, im Freundeskreis, in der Familie, vielleicht auch in politischen Parteien oder sonstwo – darüber, wie gut man es als Selbständiger doch eigentlich hat: freie Zeiteinteilung, keine nervenden Vorgesetzten, „man macht‘s ja für sich selbst“, gerade als Freiberufler kein Ärger mit der Bürokratie, dazu die Steueroptimierungsmöglichkeiten. Da bleibt einem fast nichts anderes übrig als reich zu werden.

Nach fast 25 Jahren Selbständigkeit kann ich sagen: Nein, fast nichts davon stimmt. In der Regel ist das Angedichtete naiv und von grober Unkenntnis geprägt – aber woher sollten „die anderen“ unsere tägliche Praxis, die Begleitumstände unseres Berufslebens und die rechtlichen Rahmenbedingungen auch kennen, wenn sie sie nie selbst erlebt haben?

 

Faktencheck I:

In Deutschland arbeiten aktuell etwa 4,2 Mio. Selbständige und Solo-Selbständige – das sind rund 10% aller Erwerbstätigen. Seit 2007 gibt es erstmals mehr Solo-Selbständige (2,35 Mio.) als solche mit Angestellten (1,85 Mio.), dazu gehören u. a. Handwerker, Pflegedienstleister, Klein- gewerbetreibende, Hausmeister, IT-Entwickler, Journalisten, Kreative und Kulturschaffende so- wie sonstige Freiberufler. Viele dieser 4 Mio. Menschen sind nicht freiwillig selbstständig, sondern alternativ zu einer Beschäftigung im Niedriglohnsektor oder zu wiederholt befristeten Arbeitsverhältnissen. Typisch für die Gruppe der Solo-Selbständigen sind tendenziell niedrige, häufig stark schwankende Einkommen. So verdient etwa jede/r Dritte unter 1.100 Euro netto, mehr als 25 % arbeiten zu einem Bruttostundenlohn unter 8,50 Euro.

DA MUSS MAN DOCH WAS MACHEN, ALS POLITIK!?

Ziehen wir mal die Hoteliers ab, die ihre politische Heimat vermutlich längst gefunden haben, bleiben immer noch über 4 Mio. Menschen übrig, die bei keiner Partei auf offene Ohren stoßen, wenn sie Veränderungen einfordern, die für die überwiegende Anzahl der abhängig Beschäftigten seit Jahrzehnten – zu Recht – völlig selbstverständlich sind. Es geht natürlich nicht darum, unternehmerischen Risiken auf die Angestellten oder die Allgemeinheit abzuwälzen, es geht vielmehr um eine Gleichbehandlung im Sozialversicherungssystem, es geht um Gerechtigkeit.

KRANKENVERSICHERUNG? RENTENVERSICHERUNG?

Faktencheck II:

Das deutsche Sozialversicherungssystem fokussiert sich, mit wenigen Ausnahmen, bis heute auf die abhängig Beschäftigten. Die klassischen Risiken der Erwerbstätigen (Alter, Arbeitslosigkeit, Krankheit, Erwerbsminderung, Pflegebedürftigkeit) werden überwiegend paritätisch von Arbeitgebern und Beschäftigten finanziert, Selbständige hingegen gelten bis heute mehrheitlich als nicht schutzbedürftig. Die Folge: Von den 4,2 Mio. Selbständigen sind etwa 3 Mio. nicht obligatorisch abgesichert, weil sie über keinen gleichberechtigten Zugang zu den sozialen Sicherungssystemen verfügen.

Hinzu kommt: Die Beitragsbemessung orientiert sich, anders als bei abhängig Beschäftigten, nicht am tatsächlichen Einkommen, sondern an einem unterstellten (fiktiven) Mindesteinkommen (am Beispiel der Krankenversicherung 2.231,25 Euro/ Monat, reduziert/auf Antrag 1.487,50 Euro/Monat), das viele Selbständige deutlich verfehlen oder zumindest nicht durchgängig erzielen können.

SELBSTÄNDIGE SIND ARBEITGEBER UND ARBEITNEHMER IN EINER PERSON

Das klingt plausibel, hat aber einen kleinen Haken: Die Versicherungsbeiträge – also beide Hälften – müssen vom Selbständigen allein getragen wer- den. Damit bleibt häufig viel zu wenig übrig für die Aufrechterhaltung des laufenden Betriebs, für notwendige Investitionen, und insbesondere für die private Altersvorsorge – es drohen prekäre Lebensverhältnisse und Altersarmut.

ERST HUI, DANN PFUI?

Das Interesse und die Unterstützung der Politik bei Gründungen sind überwältigend, ebenso die Anzahl der Förderprogramme, gerade im Bereich der (gar nicht mehr so) neuen Medien und in der IT-Wirtschaft – auch das ist verständlich in einem Land, das ohne Rohstoffe auskommen muss. Aber wo bleibt dieser Enthusiasmus, wenn es um die Sicherung eines laufenden Betriebs in schlechte- ren Zeiten geht, oder schlicht um die Unterstützung unserer Forderung nach Gleichbehandlung aller arbeitenden Menschen innerhalb des Sozial- versicherungssystems?

HALLO SPD: GIB DEN SELBSTÄNDIGEN DOCH ENDLICH EINE POLITISCHE HEIMAT! WER SOLL’S DENN SONST MACHEN?

Die Älteren werden sich vielleicht erinnern, dass ich eine Zeit lang die AGS in Dortmund und NRW begleitet habe. Was ich nicht vergessen habe: Die Begeisterung über die Forderungen der AGS war insbesondere innerhalb der Partei enden wollend. Was ich auch nicht vergessen werde: einen Satz eines AGS-Vorstandsmitglieds während einer Bundeskonferenz: „Die SPD wird für viele Selbständige erst dann wieder eine Wahloption sein, wenn sie nicht mehr Arbeiterpartei, sondern die Partei der Arbeit geworden ist.“

Und was die SPD nicht vergessen sollte: Ferdinand Lassalle, August Bebel und Friedrich Ebert waren Selbständige. (Anm. d. Red.: Martin Schulz auch!)

Ein Beitrag von Michael Henke, veröffentlicht in der Ausgabe September 2017 :  ROTE RUNDSCHAU aus Dortmund von Michael Henke